Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, immerhin geweihte Büchner-Preisträgerin, ist die neue „unerwünschte Person“ der Feuilletons. In Dresden hatte sich die Schriftstellerin am 2. März 2014 in ihrem Vortrag „Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod“ gegen die pränatale Diagnostik und die moderne Reproduktionsmedizin ebenso wie gegen die Freigabe des Suizids bei alten oder kranken Menschen gewandt. (c) Bäckersjunge, Herby (Herbert) me, beide Fotolia.comAuch wenn Lewitscharoff jetzt bestimmte, zweifelsohne sehr zugespitzte, gar unangemessene Formulierungen ihrer Dresdener Rede zurückgenommen hat, um, wie es scheint, ihre gut verkaufte Literatur vor Anfeindungen zu verschonen, spiegelt sich die Richtigkeit einer Behauptung nicht selten in der Vehemenz des Widerspruchs gegen sie.

Warum der Aufschrei gegen Lewitscharoff? Ganz einfach: Weil sich in Lewitscharoffs Aussagen des Dresdener Vortrags eine Kritik verbirgt, die sich gegen unseren zivilisatorischen Machbarkeitswahn wendet: Heute muss alles möglich sein, wenn es nur entweder dem Götzen Selbstverwirklichung oder dem Konsumieren dient. Lewitscharoff will sagen: Es gibt Grenzen für den menschlichen Machbarkeitswahn, auch in der Medizin, und wir sind im Begriff, diese Grenzen gerade zu Beginn und zum Ende menschlichen Lebens zu überschreiten. Die wissenschaftliche oder technische Machbarkeit von Handlungen impliziert nicht automatisch schon deren ethische Rechtfertigung.

Das Wort „Designerbaby“ beschreibt das Phänomen ganz gut: ein angesichts des Forschungsstandes der Medizin sicherlich etwas vorauseilender Ausdruck, der aber in seiner sprachlichen Zuspitzung die Wahrheit offenlegt. Ein Mensch wird gemacht, gestaltet, hergestellt wie eine Ware nach einem bestimmten Plan – und er muss auch später wie eine Ware funktionieren. Das genau ist der Ansatzpunkt von Lewitscharoffs kantischer Gesellschaftskritik: Meine Freiheit endet an dem Punkt, wo sie die Freiheit anderer Menschen verletzen könnte. Der designte Mensch ist, wenigstens an dem Punkt, an dem er willkürlich, nach dem Willen anderer Menschen in der Petrischale „hergestellt“ wird, nicht mehr allein Zweck für sich. Er ist in diesem Moment kein autonomes freies Individuum mehr, sondern dem Nutzen, oder sagen wir: dem Gebrauch anderer Menschen unterworfen.

(c) Bäckersjunge, Herby (Herbert) me, beide Fotolia.comUmgekehrt: Der Mensch ist nur dann Mensch, wenn er nicht bloß für andere Menschen oder die Gesellschaft funktionieren muss. Das gilt für alle Menschen, vor der Geburt, während des Lebens und am Endes des Lebens. Kurzum: Wir Menschen verlieren unsere Freiheit, wenn wir anderen Menschen ihre Freiheit, ihre Würde und ihre Autonomie wegnehmen, wenn wir sie für eigene Zwecke missbrauchen, selbst wenn diese Zwecke gesellschaftlich legitimiert erscheinen.

Das ist der Stachel im Fleisch des Kapitalismus (des Kommunismus übrigens auch), das ist der vitale Sprengstoff von Lewitscharoffs unerwünschter Kritik: Vergesst nicht, dass der Mensch seinen Zweck in sich selbst trägt. Vergesst nicht, dass der Mensch nicht zur Ware verkommen darf, die beliebig produziert und nach Gebrauch entsorgt werden kann. Denn jeder der Mensch hat seine Würde und seinen Wert, auch wenn er für die Gesellschaft noch so nutzlos erscheint.

Dresdener Rede von Sibylle Lewitscharoff zum Lesen und Hören…