Man darf nicht vergessen, dass Lesen nie ein Breitensport war. Aber als vor etwa zweihundert Jahren der Roman zu seiner vollen Blüte kam, etwa gleichzeitig mit dem Entstehen der Mittelklasse, da gab es kaum Konkurrenz zum Roman. Das unterscheidet die Epoche von der unsrigen. Wer in Paris oder London lebte, konnte ins Theater gehen. Aber für die Mehrheit der Menschen zwischen 1750 und 1930 war der Roman eben das einzige Reflexionsmedium, das zur Verfügung stand. Also beschäftigten sie sich damit. Das waren die goldenen Jahre des Romans, und Autoren wie Kafka, Proust oder Faulkner haben damals gezeigt, wie weit man diese Form treiben kann. Ein Mittelklasse-Ding jedoch ist der anspruchsvolle Roman, der mehr will als bloß unterhalten, immer geblieben, etwas für ein überschaubares Publikum. Lesen ist ein Privileg: Sich mit moralischer Ambivalenz auseinanderzusetzen ist ein Privileg. Den Zweifel zuzulassen ist ein Privileg.

Jonathan Franzen, amerikanischer Schriftsteller, im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18./19.November 2017

wassermusikVon Mungo Parks Expeditionen nach Afrika zur Entdeckung des Nigers erzählt T.C. Boyle in seinem 1981 erschienenen Roman „Wassermusik“, der in der Übersetzung von Dirk von Gunsteren 2014 neu aufgelegt worden ist.

Der Untertitel „Mungo Parks Reisen im Innern Afrikas von 1795 bis 1806“ des 572 Seiten umfassenden Buchs klingt nach Abenteuerroman, und natürlich schreibt T.C. Boyle auf historischer Folie über die spannenden Abenteuer einiger Verrückter, die sich – aus eitlem Forscherdrang oder aus wirtschaftlichen Zwängen heraus – zu den gefährlichen Expeditionen zum Niger nach Afrika aufmachten, um den Durst der britischen Gesellschaft nach Entdeckung fremder Länder und Menschen zu löschen.

Mit „Wassermusik“ bedient T.C. Boyle zwar das Genre Abenteuerroman, ganz vortrefflich sogar, inszeniert aber gleichzeitig das Leben der Gesellschaft Englands und Schottlands auf der Schwelle zum 18. Jahrhundert, das des Bürgertums genauso wie das der Unterschicht, mit feinen Pinselstrichen, auch burlesk und drastisch mitunter, mit einem hohen Maß an psychologischer Einfühlung und großartiger sprachlicher Virtuosität.

Das kann nur einer so: T.C. Boyle, der große Zauberer, der allein für dieses Buch über Mungo Park und dessen Entdeckungsreisen zum Niger den Literaturnobelpreis verdient hätte.

T.C. Boyle: Wassermusik. München, 2014. 572 Seiten.
 

 

T.C. Boyle, Jahrgang 1948, ist Schriftsteller und lebt in Kalifornien. Bis jetzt schrieb er 15 Romane und über 60 Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch ist Mitte des Jahres unter dem Titel „Hart auf Hart“ im Hanser Verlag erschienen.

Er musste Deutscher sein, weil ich schon lange einen Roman schreiben wollte, in dem Deutschland vorkommt. Ich habe viel Zeit im Land verbracht, ich spreche die Sprache, und die DDR hat mich seit langem gereizt, das ist ein großes Thema, viel interessanter etwa als das kommunistische Polen, weil es so viel extremer zuging: die Stasi, die Ausmaße der gesammelten Daten, die Zahl derjenigen, die dabei mitgemacht haben – das ist alles extrem. Sehr deutsch.

Jonathan Franzen im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 29.08.2015, über eine der Hauptfiguren seines neuen Romans „Unschuld“, der Andreas Wolf heißt und Deutscher ist.

Mehr über Franzen bei Valeat:
Jonathan Franzen – Freiheit

Daniel Kehlmanns "F" auf der Frankfurter Buchmesse 2013. Foto: (c) Valeat
Daniel Kehlmanns „F“ auf der Frankfurter Buchmesse 2013. Foto: (c) Valeat

 

Jahre später, sie waren längst erwachsen und ein jeder verstrickt in sein eigenes Unglück, wusste keiner von Arthur Friedlands Söhnen mehr, wessen Idee es eigentlich gewesen war, an jenem Nachmittag zum Hypnotiseur zu gehen.

Daniel Kehlmann: „F“. Reinbek bei Hamburg, 2013. Gebunden, 380 Seiten, 22 Euro 95

 

„F“ wie Friedland. Arthur Friedland besucht mit seinen drei Söhnen eine Vorstellung des Hypnotiseurs Lindemann und entschließt sich, sein Leben ganz der Schriftstellerei zu widmen.

„F“ wie Flucht. Arthur schreibt ein Telegramm „Macht Euch keine Sorgen“ und verschwindet von einem Tag auf den anderen aus dem Leben seiner Familie. Zurück bleiben zwei Frauen und drei Söhne: Martin, der Älteste, und seine beiden Halbbrüder, die Zwillinge Eric und Iwan.

„F“ wie Freiheit. Arthur hat seine Freiheit genutzt – er wird ein angesehener Schriftsteller und schreibt Bestseller mit Ratschlägen für ein glückliches Leben.

Daniel Kehlmanns "F" auf der Frankfurter Buchmesse 2013. Foto: (c) Valeat

„F“ wie Familie. Die Friedland-Söhne werden ohne Vater erwachsen. Martin wird katholischer Priester, Eric Finanzberater und sein Zwillingsbruder Iwan Kunsthändler.

„F“ wie falsch. Jeder der drei Söhne von Arthur Friedland ist mit seinem Schicksal unzufrieden. Warum bin ich so und nicht anders geworden? Was hat mich in mein falsches Leben getrieben? Sie sind frustriert: Martin, der Priester, glaubt nicht an Gott. Eric, der Finanzmakler, fühlt sich vereinsamt; die Ehe ist zerüttet, er leidet an Halluzinationen. Iwan, der Kunsthändler, hadert mit dem Schicksal, mit Kunst nur zu handeln, anstatt selber als Maler und Künstler erfolgreich zu sein.

Daniel Kehlmanns "F" auf der Frankfurter Buchmesse 2013. Foto: (c) Valeat

„F“ wie Fragen. Was ist es, was uns treibt, was uns so werden lässt, wie wir sind, und nicht anders? Daniel Kehlmanns Roman „F“ handelt von diesen existenziellen Fragen ebenso wie von brisanten gesellschaftlichen Themen: Die Ökonomie mit ihrer Finanz- und Bankenkrise, die Religion und die Krise von Katholizismus und Glauben, die Kunst und die Frage von Original und Fälschung in einem undurchschaubaren Kunstmarkt. Kehlmann breitet die Geschichte der Familie Friedmann in fünf fein miteinander verwobenen Kapiteln auf:

1 – Der große Lindemann (Seite 7 bis Seite 49): Arthur – die Geschichte vom Besuch einer Vorstellung des Hypnotiseurs Lindemann im Jahr 1984, Ausgangspunkt der Flucht von Arthur Friedmann in die Freiheit.
2 – Das Leben der Heiligen (Seite 53 bis Seite 157): Martin – die Geschichte eines katholischen Priesters, der an Gott zweifelt.
3 – Geschäfte (Seite 161 bis Seite 244): Eric – die Geschichte eines umtriebigen Anlageberaters, der sich verspekuliert hat. Die Finanzkrise und das Verschwinden seines Zwillingsbruders rettet ihn später vor dem sicher geglaubten Ruin.
4 – Von der Schönheit (Seite 247 bis Seite 319): Iwan – die Geschichte eines Kunstkenners und von einem Kunstmarkt, der Produkt von Illusion und Manipulation ist.
5 – Jahreszeiten (Seite 323 bis Seite 380, in drei Unterkapiteln aufgeteilt): Familie Friedland – die Geschichte einer Familie über drei Generationen, eine Geschichte über das Schicksal, von Brüchen und Verwerfungen, vom Gelingen und Scheitern. Arthur besucht mit seiner Enkeltochter einen Wahrsager auf dem Jahrmarkt, unverkennbar der Hypnotiseur Lindemann aus dem Eingangskapitel. Showdown: Alle Protagonisten treten noch einmal, direkt oder indirekt: Der verschwundene Iwan – wurde er getötet, ist er ausgewandert? – als Retter seines Zwillingsbruders Eric.

Daniel Kehlmanns "F" auf der Frankfurter Buchmesse 2013. Foto: (c) Valeat

Trotz formaler Trennung in Kapiteln mit jeweils einer Person im Vordergrund, aus deren Perspektive erzählt wird, berühren sich in „F“ die Lebensgeschichten der Protagonisten. Beispiel: die Begegnung zwischen Martin und Eric, die zuerst Martin und später Eric erzählt. Dieselbe Szene mit Wahrnehmungen und Empfindungen, die kaum unterschiedlicher sein können. Wenn man so will, Paradigma für die Isoliertheit des Menschen in einer Welt, die von Kommunikationschancen überbordet, in der menschlicher Dialog und Austausch aber unmöglich geworden sind.

Kehlmann schafft in „F“ also Verzahnungen zwischen den Kapiteln und so zwischen den Brüdern in ihrer monadenhaften Existenz. Noch ein Beispiel: Martin betreut einen Jugendlichen, der zusammen mit zwei Kumpanen einen Erwachsenen, der einen Streit schlichten wollte, brutal zusammengeschlagen hat. Diesen drei kriminellen Jugendlichen begegnet Eric später an einer Imbissbude – später, was die Erzählzeit betrifft, aber früher, was die erzählte Zeit angeht. Im nächsten Kapitel, das von der Lebensgeschichte Iwan handelt, erfahren wir, dass es Iwan war, der so grauenhaft zuammengeschlagen wurde, als er einen Streit zwischen Jugendlichen schlichten wollte. Iwan hatte eine Vorahnung, dass das Eingreifen übel für ihn ausgehen würde, doch wie ein Getriebener war er seinem Unglück in die Arme gelaufen. Warum handeln wir so und nicht anders? Ist unser Wille Ursprung unserer Handlungen? Was steuert unseren Willen?

„F“ wie Fatum. Daniel Kehlmanns „F“ ist ein minutiös durchkomponierter und durchweg gut geschriebener Roman – kein Familienroman, auch kein Gesellschaftsroman, sondern ein philosophischer Roman über das Schicksal: „F“ wie Fatum, Schicksal. Dass Philosophie im besten Sinne unterhaltend stattfinden kann, ist Verdienst eines Schriftstellers, der nach „Vermessung der Welt“ (2005) und „Ruhm“ (2009) seine Erzählkunst mit „F“ einmal mehr eindrucksvoll nachweist.

„Fatum“, sagte Arthur. „Das F. Aber der Zufall ist zu mächtig, und plötzlich bekommt man ein Schicksal, dass nie für einen bestimmt war. Irgend ein Zufallsschicksal. So etwas passiert schnell.“

Daniel Kehlmann: „F“. Reinbek bei Hamburg, 2013. Gebunden, 380 Seiten, 22 Euro 95

Daniel Kehlmanns "F" auf der Frankfurter Buchmesse 2013. Foto: (c) Valeat

 

Der Aufruhr im Breidenbacher Hof war groß. Das Grand Hotel befand sich im Ausnahmezustand. Krude Zeiten. Da musste man durch.

 

Hans Pleschinskis "Königsalle" Frankfurter Buchmesse 2013. Foto: (c) Valeat
Hans Pleschinskis "Königsallee"
Der Breidenbacher Hof, Düsseldorf im Jahr 1954. Der Kaufmann und Weltenbummler Klaus Heuser besucht nach achtzehnjähriger Abwesenheit seine Heimatstadt und quartiert sich in jenem Hotel an der Königsallee ein, das auch der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann während einer Vortragsreise durch Deutschland besucht: »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« werden dem jungen Nachkriegsdeutschland vorgestellt. Nichts Aufsehen Erregendes – warum in Hans Pleschinskis Roman »Königsallee« weiterlesen?

Klaus Heuser ist nicht irgendwer, sondern war als Siebzehnjähriger Objekt einer homoerotischen Liebe, die Thomas Mann während eines Urlaubs auf Sylt im Jahre 1927 erfasst und, wie die vielen literarischen Verarbeitungen zeigen, auch später nicht mehr losgelassen hatte. Daraus zieht der Roman »Königsallee« von Hans Pleschinski seinen dramatischen Stoff.

Denn Erika Mann versucht das Zusammentreffen der beiden im Breidenbacher Hof mit allen Mitteln zu verhindern, befürchtet sie doch, dass der 79-jährige Vater sich durch eine Begegnung mit Klaus Heuser zu sehr aufregen könne. Andere wie Ernst Bertram und Golo Mann versuchen von dieser vermeintlich bevorstehenden Begegnung zu profitieren: Klaus Heuser möge ein gutes Wort für sie bei Thomas Mann einlegen.

Dichtung und Wahrheit: Hans Pleschinski ist ein großartiges Buch gelungen. Pleschinski verarbeitet humoristisch erzählerische Usancen Thomas Manns und legt 60 Jahre nach dem historischen Ereignis der Buchlesung in Düsseldorf einen Roman vor, der nicht nur literarisch, sondern auch literaturgeschichtlich bedeutsam ist.

Wie Pleschinski im Nachwort von »Königsallee« sagt, schulde er der Nichte Klaus Heusers »größten Dank für die Entstehung dieses Buches«. Denn sie habe ihm »Urkunden, Photos und Briefe Klaus Heusers« überlassen. Dichtung oder Wahrheit – ob sich in diesen Dokumenten Belege für den überraschenden Schluss von »Königsallee« finden lassen?

Hans Pleschinski: „Königsallee“. München 2013. 393 Seiten, 19,95 Euro

Hans Pleschinskis "Königsallee" auf der Frankfurter Buchmesse 2013. Foto: (c) Valeat
Hans Pleschinskis "Königsallee" auf der Frankfurter Buchmesse 2013. Foto: (c) Valeat

 

Schreiben ist ein Spiel mit dem Tod. Foto: (c) flucas - Fotolia.com

Ich sehe die Philosophie als eine Suche nach Wahrheit, was eine gewisse Ernsthaftigkeit des Geistes voraussetzt, während es in der Literatur um etwas anderes geht. Schreiben ist ein Spiel mit dem Tod. Wenn man sich auf das Schreiben eines Romans einlässt, muss man eine Sprache finden. Die Sorge, eine eigene Sprache zur Welt zu bringen, nimmt in den Augen des Schriftstellers eine tödliche Gewichtigkeit an, wird für ihn zu einer lebenswichtigen Frage.

Imre Kertész (Jahrgang 1929) in Philosophie Magazin Nummer 5/2013

Padgett Powell: Roman in Fragen.

 

Padgett Powell ist Amerikaner. Für seinen „Roman in Fragen“ könnte er aber durchaus Engländer sein – verschrobener, skurriler geht es kaum: ein Roman, der nur aus Fragen besteht, 185 Seiten Fragen, nur Fragen. Macht das einen Roman? möchte man fragen, um gleich mit „Ja“ zu antworten. Ein Lesevergnügen.

 

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Reinbek bei Hamburg, 2011.

 

Die Reise: Grüner Waggon. Schlafwagen, gemütlich wie ein Häuschen auf Rädern. Man konnte auch Tee bestellen. Auf den Teegläsern war der Kreml drauf. Um den Kreml herum kreiste ein kleiner Sputnik. Räderwechsel in Brest. Breitere Spur für die Sowjetunion. ‚Stimmt’s, Mama, die Sowjetunion ist das größte Land der Welt.‘ – ‚Ja, natürlich.‘

Eugen Ruge (Jahrgang 1954): In Zeiten des abnehmenden Lichts.

„Der große DDR-Buddenbrooks-Roman.“ stellt DIE ZEIT kategorisch auf dem Klappentext fest, und die FAZ ergänzt: „Überragend“. Um es vorweg zu sagen: „In Zeiten des abnehmendes Lichts“ ist ein hoch gelobtes Buch – der Autor Eugen Ruge erhielt 2011 dafür den Deutschen Buchpreis. Sicherlich verdient. Dennoch ist es vermessen, von einem Buddenbrooks-Roman zu sprechen, und das nicht nur, wenn man ausgeprägter Thomas-Mann-Freund ist.

So werde ich mich nicht mit Vergleichen aufhalten. „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ beschreibt die Geschichte einer Familie in der DDR über drei Generationen hinweg, von 1952 bis 2011. Ruge konstruiert die 50-jährige Familiengeschichte in drei Erzählsträngen, die in 20 Kapiteln auf 426 Seiten miteinander verwoben sind. Die Kapitel sind mit Jahreszahlen überschrieben. Der „1. Oktober 1989“ mit vier und das Jahr „2001“ mit drei Kapiteln bilden jeweils eigene Erzählstränge und durchbrechen immer wieder die lineare Haupthandlung der Familienchronik.

Und so beginnt der Roman mit einem frühen Teil des Endes: Der krebskranke Alexander besucht seinen Vater Kurt, der unter einer schweren Demenz erkrankt ist und nicht mehr allein für sich sorgen kann, jener Kurt, Professor für Geschichte und Autor mehrerer Werke über die Geschichte der DDR, der doch immer so wortgewandt und diszipliniert gewesen war: Jetzt müssen ihm die Windeln gewechselt werden, er spricht kaum noch ein Wort artikuliert aus. Alexander beklaut Kurt und geht mit dem Ersparten des Vaters auf Weltreise, nach Mittelamerika, nach Mexiko auf den Spuren seiner Großeltern Wilhelm und Charlotte, mit deren Geschichte „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ im Jahr 1952 beginnt:

Dann holte er das Neue Deutschland aus seiner Aktentasche und schlug es auf, und Charlotte fiel sofort eine Überschrift auf der ihr zugewandten Rückseite ins Auge:

DIE PARTEI RUFT DICH!

Charlotte schämte sich. Für ihren Hutschleier. Für ihre Angst. Für die fünfzig Dosen Nescafé in ihrem Koffer… Ja, die Partei brauchte sie. Dieses Land brauchte sie. Sie würde arbeiten. Sie würde mithelfen, dieses Land aufzubauen – gab es eine schönere Aufgabe?

Charlotte und Wilhelm machen sich auf die Reise von Mexiko in den Arbeiter- und Bauernstaat und bauen mit an der noch jungen DDR. Genauso wie später Sohn Kurt, der nach Moskau emigriert war und zusammen mit seiner Ehefrau Irina in die DDR einreist. Irina leidet unter dem kleinbürgerlichen Mief der kommunistischen DDR und flieht in den Alkohol. Auch Enkel Alexander hält es nicht mehr aus und geht ausgerechnet am 90. Geburtstag seines Großvaters Wilhelm in den Westen. Womit wir wieder beim Klappentext wären: „Die Strahlkraft der politischen Utopie scheint sich von Generation zu Generation zu verdunkeln: Es ist die Zeit des abnehmenden Lichts.“

Fazit: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist ein Familienroman und spielt in einer längst vergessenen Zeit. Wie damals Buddenbrooks. Ist aber nicht Buddenbrooks, ist aber trotzdem lesenswert.

 

    Merrie, zehn Jahre älter als Patty, und jedes einzelne davon sah man ihr an, hatte sich früher für die linke Studentenorganisation SDS in Madison engagiert und engagierte sich jetzt sehr in Sachen Beaujolais noveau.
    Jonathan Franzen, Freiheit

Jonathan Franzen hat in Berlin und München Germanistik studiert und es kann als sicher gelten, dass ihm die Werke des großen Thomas Mann während seines Studiums begegnet sind. Anders lässt sich nicht erklären, warum Franzen so wuchtige Familienromane schreibt. Im Klappentext von „Freiheit“, Franzens neuestem Werk, heißt es „ein großes Epos der letzten dreißig Jahre amerikanischer Geschichte“. Zugegeben, dies sind wohlfeile Werbetexte des Verlags, auf die man nicht allzu viel Wert legen muss. Doch spätestens nach 731 Seiten Lesevergnügen weiß der Leser, dass dem New Yorker Schriftsteller mit „Freiheit“ nicht nur vom Umfang her ein großes Werk gelungen ist, wieder einmal.

Jonathan Franzen: Freiheit. Reinbek bei Hamburg, 2010

„Freiheit“ ist die Geschichte der Familie Berglund, vor allem von Patty und Walter Berglund, deren Ehe sich, in der Mitte des Lebens angekommen, über viele viele Seiten des Romans bewähren muss. Franzens Virtuosität: Der Erzähler kriecht gewissermaßen in die Personen hinein, ist also im besten Sinne personaler Erzähler – und so tauchen wir tief in das Seelenleben der Figuren ein: Wir fühlen uns einsam und verlassen wie Patty, wir sind bürgerlich, rechtschaffen und ehrgeizig wie Walter, wir sind Künstler wie dessen Jugendfreund Richard Katz. Wir streben nach Anerkennung, wir verlieben uns, wir hassen einander. Wir sind die Berglunds. Ein lesenswertes Buch nicht nur an langen Winterabenden, vier von fünf Punkte in der Valeat-Skala.

Jonathan Franzen, Jahrgang 1959, lebt in New York. In Deutschland wurde er durch „Die Korrekturen“ bekannt, einem Familien- und Zeitroman, der 2001 erschienen ist. Weitere Werke: Die 27. Stadt (1988), Schweres Beben (1992), Anleitung zum Alleinsein (2002), Die Unruhezone (2006).