
Statt mit der normativen Kraft des Faktischen haben wir es mit einer normativen Kraft des Fiktiven zu tun. In Staaten wie dem Libanon ist jeder Fünfte ein Flüchtling. Jordanien gibt ein Viertel seines Staatshaushaltes für Flüchtlingshilfe aus. In Deutschland ist nicht mal jeder Vierzigste ein Flüchtling, und die Staatsausgaben für Zuwanderer liegen im niedrigen einstelligen Bereich. Trotzdem konstatieren Kommentatoren »Staatsversagen«. So hält das völlig fiktive Bild eines kollabierenden und überrannten Landes dafür her, harte Maßnahmen zu fordern. Wer hier die öffentliche Ordnung kollabieren sieht, redet wohlgemerkt von Deutschland im Jahr 2016 und nicht von Syrien, Afghanistan oder Somalia. Nicht die Realität, sondern Übertreibung und Phantasma begründen die immer stärkere begriffliche Aufrüstung.
Richard David Precht und Harald Welzer in der ZEIT vom 17. März 2016
